Tote Giraffen im Schwarzen Meer

Ein dynamisches Romanfragment. Von Daniel Zimmel

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Das lilafarbene Auto rollte in einem lansamen und gleichsam trunkenen Sauseschritt die Bundesstraße entlang. Kühe weideten am Wegesrand und blickten nicht auf, als das Auto vorbeitrullerte. "Gib mir mal ne Stulle", blökte der Fahrer, als sie ein überdimensioniertes Reklameschild für Geflügelleberwurst passierten.
"Mit Wurst oder mit Marmelade?", fragte seine Mitfahrerin von der Rückbank. Sie war ganz in Beige gekleidet und fügte sich nathlos in die Ledergarnitur der Sitzbank ein. Sie hatte eine kleine Nase, aber nicht zu klein, und trug einen beigefarbenen Hut aus Strick, welcher ihr über die Ohren hing.
"Ist doch schnuppe, Süße, schmeiß mir einfach das erste rüber, was du 'rausfischst!". Der Fahrer schien nicht zimperlich in der Wahl seiner Butterbrote. Sein äußeres Erscheinungsbild legte nicht unbedingt nahe, dass er kein Gourmet war. Er steckte in einem Anzug aus feinster tadschikischer Seide, silbrig chargierend im Abendsonnenlicht.

Dunkelheit durchfloss die kalten Räume der Almhütte. Wie die Nebelschwaden langsam den steilen Fichtenhang emporwaberten, so kroch die Dunkelheit durch das Holzhaus: in ruhiger, aber steter Bewegung. Doch gänzlich dunkel war es nicht. Hier und da riss das fahle Mondlicht ein Loch in die Dunkelheit und gab einen Gegenstand frei, wenn auch nur für ein paar Sekunden. Ein angesengtes Polaroidfoto hing an brüchigem Tesafilm über dem Sekretär. Auf einer umgedrehten Kaffeetasse lag Staub in einer dicken Schicht, wie frischgefallener Schnee auf dem Kilimandscharo. Abgetakelte Spinnwebfäden hingen schlaff in der Luft, Zeugen einer längst vergangenen Zeit. Ein Glas Tinte lag auf der Seite, eine eingetrocknete Lache bildete einen dunklen See auf dem Buch, welches aufgeschlagen auf dem Tisch ruhte. In diesem Haus war schon lange niemand mehr gewesen - selbst die Spinnen waren längst verhungert, es mangelte an Beute.

Fahl hing die Sonne über dem Berggipfel und warf ein milchiges Licht auf das Wasserkraftwerk. Der Stausee lag ruhig eingebettet zwischen den Bergen. Die Kühe auf der angrenzenden Weide schienen sich nicht am dumpfen Surren der Turbinen zu stören; sie grasten stumpf und unbeeindruckt vof sich hin. Sanft kräuselte sich das Wasser in türkiser Farbe und schwappte gegen die Staumauer. Auf der dem Tal zugewandten Seite zog sich die Mauer hunderte von Metern in die Tiefe. Die Ingenieure hatten hier eine wahrliche Meisterleistung vollbracht. Das Kraftwerk galt als das zuverlässigste und stabilste seiner Art auf der Welt. Seit Jahrzehnten produzierten die Menschen aus den umliegenden Tälern bereits ihren Strom, und waren durch den Export an goldene Nasen gekommen. Die Dörfer ringsum schmückten sich mit schönen Häusern, fein herausgeputzten Gärten und renovierten Kirchen. Hier war der Wohlstand zu Hause. Und genau hier wollten die Giraffen ihr erstes Exempel statuieren, um der Welt zu zeigen, dass mit ihnen nicht gut Kirschen essen war.

Der wolkenlose Himmel war von einem solch tiefen Blau, dass es schon fast unwirklich aussah. Sie öffnete den Koffer, nahm ein Klischee heraus, und klebte es in die Luft. Sie rückte es ein wenig nach links, und nach einem kurzen Stirnrunzeln schien sie doch ganz zufrieden zu sein. Langsam wippte sie mit ihrem Fuss. Der Fluss führte zwar weitaus nicht mehr so viel Wasser wie vor einem Monat, doch reichte es immer noch für ein Schiff aus. Sie hörte es bereits leise vor sich hinpluckern, obwohl es noch ziemlich weit entfernt sein musste. Doch bald würde es hier sein, soviel war gewiss, und bis dahin gab es noch etwas zu erledigen. Der Koffer schloss sich mit einem lauten Schnappen, und sie hob ihn hoch. Viel leichter war er nicht geworden. Gut, dachte sie sich, es ist höchste Zeit, den ganzen Scheiß endlich loszuwerden. Die Sache hier fühlte sich jedenfalls an wie ein vielversprechender Anfang. Sie vergewisserte sich, dass der Koffer auch richtig verschlossen war, und hastete durch das hüfthohe Gras am Ufer entlang.

Die Giraffen hatten ihn gewarnt. Rosa hatte ihn gewarnt. Alle hatten ihn gewarnt. Und jetzt saß er hier in seinem kleinen Zimmer, hörte das unregelmäßige Seufzen des übergewichtigen Kanarienvogels aus der Wohnung über ihm. Seitdem seine rothaarige Nachbarin entdeckt hatte, wie sie Geld sparen konnte beim Einkauf des Vogelfutters, lebte der Kapitän im steten Bewusstsein, dass das Tier jeden Moment Selbstmord begehen konnte. Es würde ihn nicht groß stören, es wäre in jedem Fall besser als das Seufzen. Es konnte ihn in den Wahnsinn treiben.
Die Kiste wies einige Brandspuren auf. Nach dem, was er über ihre Herkunft gehört hatte, war dies nicht weiter verwunderlich. Er holte den Kartoffelschäler aus seiner Brusttasche und hebelte die Kiste grob auf. Was er in ihr erblickte, war nicht gut.

Wenn sie es zu den Dünen schaffen würde, könnte Rosa die Schildkröte sicher vor ihren Verfolgern verstecken, dachte sie im Stillen. Viel Zeit zum Überlegen blieb ihr allerdings nicht mehr. Das Auto kroch näher und näher, nicht allzu schnell, aber unaufhaltsam. Sie musste etwas tun. Schnell packte sie ihren Rucksack auf ihren Rücken, sprang auf, und rannte los, den Dünen entgegen.

Unruhig stromerten die Giraffen hinter dem Gitter hin und her. Von links nach rechts. Von rechts nach links. Sie nahmen ihn nur halb interessiert wahr, er war nur ein Nichts. Schnell senkte er seinen Blick zu Boden, wenn sie die Köpfe in seine Richtung drehten. Nicht in die Augen sehen, hatte ihm der Zoodirektor eingebleut, nicht in die Augen sehen! Sobald die Giraffen Sie fixieren, werden sich Ihre Gehirnwindungen unter ihrem scharfen Blick entzünden, und Sie werden sich wünschen, nie geboren worden zu sein. Er schluckte, als er den Direktor so sprechen hörte. Niemals hätte er gedacht, dass Giraffen solch eine Kraft haben würden. Es klang wie ein billiger Science-Fiction-Roman. Doch es war Wahrheit.

Linkisch versuchte die am nächsten stehende Giraffe ihn mit ihrem Blick zu fixieren. Ihre lange Zunge fuhr ihr über die Nüstern. Nicht in die Augen sehen. Bloß nicht in die Augen sehen. Langsam holte er den Sender aus den Taschen. Die Giraffen schauten nun etwas interessierter, gaben sich jedoch Mühe, nicht zu interessiert auszusehen. Ein leises Schnauben entfuhr der kleinen Gescheckten.

Das Auto schoss um die Ecke. Es war voller Giraffen, vorne zwei, hinten zwei. Ihre Hälse schlackerten fliehkraftsynchronisiert aus den heruntergekurbelten Fenstern. Ein Cabrio wäre vielleicht die bessere Wahl gewesen. Mit quietschenden Reifen legte sich das Auto zur Seite und kippte bedrohlich. Mit eisig grimmigem Blick unter ihren buschigen Augenbrauen durchstachen die Giraffen ihre Umgebung, während ihnen fahrtwindbedingt Tränen in den Augen kumulierten. Niemand würde sich diesen wild entschlossenen Tieren in den Weg stellen. Bösartigkeit aßen sie zum Frühstück, Niedertracht gab es zum Mittagsnachtisch, und abends kippten sie sich eine Kugel Hass hinter die Binde. Hätte der Zoodirektor sie gesehen, wie sie in ihrem Auto dahinschossen, die Hälse schlackernd, der Blick funkelnd, er hätte sich auf der Stelle vor das Auto geworfen. Doch er war ja bereits tot. Der Blick der Giraffe am Steuer funkelte besonders.

Die Dioden leuchteten keck. Er drückte eine Kombination und Zahlenkolonnen rauschten im Display vorbei. Soweit schien alles zu stimmen. Er stöpselte die Schildkröte ein und drehte den Panzer einmal leicht nach rechts, bis er einrastete.

Der Affe ist los. Nochmal: der A.F.F.E. ist verdammtnochmal los! es ist mir scheißegal, ob du deinen Job gemacht hast, oder nicht, die Wahrheit ist, der Affe ist los!

Der U-Bootkapitän rieb sich die Augen. Er kroch aus dem Müllcontainer hinter der Kaimauer, hustete feucht und röchelte sich einen kalten Fisch aus dem Rachen. Nur mit Mühe gelang es ihm, aus der Tonne zu kraxeln. Schließlich klatschte er wie eine reife Tomate auf den Boden, keuchte noch dreimal und wurde ohnmächtig. Nach ein paar Stunden weckte ihn das hartnäckige Picken einer Möwe, welche versuchte, ihm seine Hundekräcker aus der Tasche zu stibitzen. Er blinzelte in die Sonne, fuchtelte die Möwe mit einem kräftigen Schlag entzwei und setzte sich langsam auf. Seine Rippen taten ihm höllisch weh, seine Augen brannten, und in seinem Schnurrbart hing Rotz. Er blickte zum Horizont. Seine Schläfen pochten. Die Erinnerung huschte in Fetzen durch seinen Kopf. Zwanzig Doppelagentinnen hatten sein Boot gekapert und jagten nun da draußen Haie.

Der Affe mochte es hier. Es gab genug zu Lesen, Obst zur freien Verfügung, und außerdem keine unangenehmen Fragen. Hier konnte er ganz Affe sein, ohne dass sie ihm auf die Pelle rücken würden. Er ließ ein Bad ein, schüttete die Kokosmilch dazu, und glitt in die Wanne. Behaglich grunzend blubberte er eine Weile herum.

Es musste Gras über die Sache wachsen, dachte sie sich. Viel Gras.

Einzig die Theke sorgte für ein bisschen Licht. Dahinter klackerte ein untersetzter Mann in einem violetten Polyester-Anzug gerade Eiswürfel in ein Cocktailglas.

Der Barkeeper war eine verdammt miese Type, mit verschlagenen Augen und einer Narbe über dem rechten Augenlid. Er blinzelte ständig, und das machte sie nervös. Sie schlenderte zur Jukebox und warf einen Blick auf die Titel. The Exploding Bananasplits, Tales from a Tunafish, Snailstyle Fuckers, mann, was für ein kranker Mist. Sie schloss die Augen, drückte einen Knopf, hörte das langsame Klicken, und wartete, nicht wirklich gespannt, welchen Schrott ihr Finger ausgewählt hatte. Aber sie hatte Pech. Es klickte, und bevor der Tonabnehmer irgendwas abnehmen konnte, rumpelte die Box nur kurz, schnaufte einmal heftig, und verweigerte fortan ihren Dienst. Sie öffnete ihre Augen, starrte auf das Glas, und entschied sich für einen ordentlichen Fußkick gegen die massive Box, was ihr einen hasserfüllten Blick vom Barkeeper einbrachte. Die Happy Hour war nun wohl vorbei.

Vom grellen Neonröhrenlicht hätte man hier drinnen allerdings auch etwas gebrauchen können, so dunkel war es. Sie konnte nicht mal erkennen, ob überhaupt Leute an den Tischen saßen. Nur das Gemurmel aus dem Dunkel ließ darauf schließen, dass sie nicht der einzige Gast hier war. Nicht mal Kerzen gab es. Wie man hier freiwillig seinen Abend verbringen konnte, hatte sie noch nie kapiert. Sie hatte auch nie so richtig gesehen, wer überhaupt hier war, dafür war es einfach zu dunkel. Einmal war ihr eine junge Göre entgegengestolpert, sie trug den Lippenstift verschmiert und warf ihr einen schiefen Blick zu. Mein Gott, sie kam sich wirklich zu alt vor für diesen Mist. Aber es half nichts. Nun war sie hier, und sie musste die Schildkröte unbedingt auf den Schirm bekommen, sonst sah es für die Zukunft noch zappendusterer aus als in diesem verruchten Schuppen. Einzig die Theke sorgte für ein bisschen Licht. Dahinter klackerte ein untersetzter Mann in einem violetten Polyester-Anzug gerade Eiswürfel in ein Cocktailglas.

Fortsetzung folgt...